Ist das wirklich ein Widerspruch?

Diskutiert man mit Menschen über die Zukunft und vor allem darüber, wie man die Zukunft formen und Dinge besser machen könnte, kristallisieren sich recht klar zwei Gruppen heraus: Auf der einen Seite stehen die Utopisten, die große Visionen und Gesellschaftsentwürfe konstruieren, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, sie sich selbst meist Pragmatiker nennen, und kleinere, oft kosmetische Schritte bevorzugen, weil ihrer Meinung nach größere Veränderungen ohnehin nie eintreten werden. Vielleicht stehen sich diese beiden Ansichten aber gar nicht so sehr entgegen, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Hier versuche ich, sie zu verbinden.

Unbestreitbar ist, dass Veränderungen, kleine wie große, unbedingt notwendig sind und sein werden. Zwar ist die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben, in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen, von einem guten Leben für alle sind wir aber noch weit entfernt. Vielen fehlt es, obwohl sie nicht in extremer Armut leben, am Nötigsten. Selbst in wohlhabenden Ländern können sich viele die grundlegenden Lebenshaltungskosten nicht leisten. Dies ist gerade angesichts der Tatsache, dass einige wenige so viel Geld haben, dass sie ganz alleine mehrmals den Welthunger beenden könnten, schlichtweg inakzeptabel.

Ein weiteres Problem, das unter keinen Umständen ignoriert werden kann, ist die Klimakrise. Ohne drastische Änderungen in der Wirtschaftsweise wird die Erde für den Menschen wohl nachhaltig unbewohnbar werden. Der Zeitpunkt, an dem nicht mehr gegengesteuert werden kann, rückt Tag für Tag näher.

Für die Lösung dieser Probleme wird es immense Veränderungen brauchen, die über bloß kosmetische Anpassungen weit hinausgehen. Oft werden diese Veränderungen als utopisch, unrealistisch oder gar völlig unmöglich charakterisiert. Aber sind sie das wirklich? Oder ist nicht doch mehr möglich, als viele denken? Und wie kommen wir da hin?

Können Utopien existieren?

Utopien spielen sich zumeist am äußersten Vorstellungshorizont der Zeit ab, in der sie erdacht wurden. Da Technologie und Gesellschaft jedoch kontinuierlich voranschreiten, und dies geschieht in der modernen Zeit immer schneller, erweitert sich auch der Vorstellungshorizont. Utopien aus der Vergangenheit sind teilweise wahr geworden, jedoch oft auf eine andere Weise als ursprünglich vorgestellt und so gut wie immer nur in einzelnen Teilaspekten (zum Beispiel Smartphones).

Das Jetzt kann also in gewisser Weise die Utopie der Vergangenheit sein. Die Utopie des Jetzt liegt aber gezwungenermaßen in der Zukunft. Und das Jetzt wird von den Menschen der Gegenwart wohl kaum als Utopie wahrgenommen, auch wenn manche heutigen Errungenschaften früher als utopisch gegolten hätten. So gesehen könnte man sagen, dass eine Utopie per Definition nicht erreicht werden kann, da die sie mit dem Vorstellungshorizont weiterwandert und daher zwangsläufig immer in der Zukunft liegt.

Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine Utopie von heute nicht in der Zukunft existieren kann. Sie ist dann nur eben keine Utopie mehr, sondern die gegenwärtige Realität.

Klarzustellen ist, dass ich Utopien in diesem Zusammenhang nicht als vollständig durchdachte Gesellschafts- und Weltentwürfe verstehe. Diese können wohl realistischerweise wie bereits erwähnt nur in Teilaspekten erreicht werden, weil Komplettentwürfe nicht alle Faktoren berücksichtigen können. Das soll aber nicht heißen, dass es sinnlos ist, solche Ideen zu entwerfen, und es ist auch nicht sinnlos, sie anzustreben; bereits das Erreichen eines Teilaspekts kann unter Umständen einen großen Nutzen hervorbringen.

Der sogenannte Pragmatismus

Viele Menschen sind heutzutage der Ansicht, dass die Gesellschaft im Grunde gleichbleibt und große Veränderungen unmöglich wären. Laut dieser Sichtweise sind Utopien sinnlose Gedankenspiele, die mit der Realität nichts zu tun haben und es ist von vornherein reine Zeitverschwendung, überhaupt darüber nachzudenken. Bereits etwas bescheidenere, aber über das Kosmetische hinausgehende Veränderungen, wie etwa ein bedingungsloses Grundeinkommen, werden als pure Zukunftsmusik abgeschrieben. Diesen Unwillen zur Veränderung nennt man dann „pragmatisch“.

Oft gründet diese Denkweise auf eines von drei Motiven: Entweder befindet man sich bereits in einer privilegierten Position und sieht gar keinen Bedarf an Veränderung (oder hat Angst davor, Privilegien gegenüber anderen zu verlieren). Oder man ist völlig desillusioniert und hält Veränderungen zwar für sinnvoll oder nötig, ist jedoch davon überzeugt, dass sie von anderen nicht gewollt oder von bestimmten Akteuren aktiv verhindert werden und es daher sinnlos ist, eine Veränderung überhaupt anzustreben oder sich an einem Gestaltungsprozess zu beteiligen. Letztlich spielt auch Fantasielosigkeit eine große Rolle: Man kann sich einfach keine andere Situation, keine andere Gesellschaft oder kein anderes System vorstellen als das Gegenwärtige.

Während das erste Motiv den Unwillen zur Veränderung vor allem auf einen gewissen Egoismus oder einen Mangel an Solidarität mit weniger Privilegierten gründet (oder auch auf einer Ignoranz in Bezug auf andere Lebensrealitäten), ignorieren die beiden anderen Motive vor allem historische Fakten. Gesellschaften und Systeme haben sich laufend verändert, und diese Veränderung hat in den letzten hundert Jahren noch viel stärker zugenommen. Diese Ansicht, Veränderungen für unmöglich zu halten, ist zumeist damit zu erklären, dass selbst erlebte Geschichte oft nicht als solche wahrgenommen wird und vielerorts ein Desinteresse and Geschichte im Allgemeinen herrscht. Dies setzt jedoch nicht die Tatsache außer Kraft, dass gegenwärtige Verhältnisse nur im gegenwärtigen Zeitpunkt bestehen und in einem historischen Kontext betrachtet nicht mehr so unveränderlich oder gar „natürlich“ erscheinen.

Es ist also festzuhalten, dass Veränderungen, auch größere, sehr wohl möglich sind. Was fehlt, ist oft nur das Bewusstsein dafür. Die Ablehnung von Veränderung ist auch nicht pragmatisch, auch wenn viele dies fälschlicherweise so sehen. Keine Veränderung bedeutet nicht Pragmatismus, sondern Stillstand.

Puristische Utopien

Es existiert ebenfalls ein polarer Gegensatz zu den sogenannten „Pragmatikern“. Dies sind jene Menschen, die einer bestimmten Utopie anhängen, welche oft einen gesellschaftlichen und/oder wirtschaftlichen Totalentwurf enthält, und diese lieber heute als morgen wahrhaben wollen. Jegliche Zwischenschritte werden abgelehnt, es ist entweder alles oder gar nichts. Durch das Fehlen von konkreten Umsetzungsschritten kann es jedoch nur bei reinen Gedankenexperimenten bleiben. Damit ist nicht gemeint, dass diese Gedankenexperimente sinnlos sind, sie haben nur keinen Anspruch auf Umsetzbarkeit.

Ich kann nur allzu gut verstehen, dass man in Bezug auf Veränderung oft ungeduldig wird. Wie bereits ausgeführt, leben immer noch zu viele Menschen in untragbaren Verhältnissen und es ist ihnen nicht zuzumuten, noch länger in diesen Zuständen zu verbleiben. Es sind genug Ressourcen verfügbar, um allen ein grundlegend gutes Leben zu ermöglichen. Somit können utopische Ideen oft notwendig sein, um solche Zustände zu beenden oder zumindest erträglicher zu machen. Die Abwendung der Folgen der Klimakrise erfordert ebenfalls Veränderungen, die derzeit einigen utopisch erscheinen mögen.

Jedoch sind genau aus diesem Grund konkrete und rasch umsetzbare Schritte nötig. Es würde viel länger dauern, auf die Umsetzbarkeit von Komplettentwürfen zu warten, als mit kleineren, aber substanziellen Schritten zu beginnen. So gesehen ist dieses puristische Bestehen auf eine „reine“ Utopie ebenfalls eine privilegierte Position, da offenbar für einen selbst kein unmittelbarer Drang besteht, die Verhältnisse zumindest ein wenig zu verbessern.

Außerdem besteht, wie bereits beschrieben, eine gewisse Trägheit bei vielen Menschen gegenüber Veränderungen. Gerade gegenüber wenig konkreten Vorschlägen besteht oft große Skepsis. In einer demokratischen Gesellschaft muss nun mal zunächst eine gewisse Anzahl von Menschen von einer Idee überzeugt werden, bevor sie zur Umsetzung gelangt. Und dies wird bei einzelnen Schritten am Weg zu einer Utopie viel besser funktionieren, als wenn man den Menschen einen Entwurf vorlegt, der wenig mit ihrem gewohnten Leben gemein hat. Theoretisch kann man auch argumentieren, man könnte die gewünschte Veränderung einfach mit Gewalt herbeiführen. Dies wird jedoch, wenn die Veränderung nicht von einer Mehrheit mitgetragen wird, niemals zu einem positiven Ergebnis, sondern immer zu Autoritarismus führen, was unter keinen Umständen zu akzeptieren ist. Eine rein auf Gewalt gestützte vorgebliche Utopie kann nicht das Ziel sein.

Kleine Schritte – große Ziele

Es ist eindeutig, dass es große, auch systemische Veränderungen brauchen wird, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Klar ist auch, dass solche Veränderungen mit einem klaren Konzept und nicht alle auf einmal durchgeführt werden können. Die Lösung des Problems des Gegensatzes zwischen der Notwendigkeit von utopischen Ideen und deren manchmal unklaren Umsetzung liegt weder in der Resignation noch in Gedankenspielen. Vielmehr ist hier echter Pragmatismus gefragt.

Veränderung kann, muss aber nicht immer in einem großen Wurf erfolgen. Ist der große Wurf zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich, ist es wohl sinnvoller, zunächst einzelne Teile davon umzusetzen, als darauf zu warten, alles auf einmal machen zu können und damit womöglich auch noch Zeit zu verlieren. Konkrete Schritte, die zu einer Verbesserung beitragen, sollten auf jeden Fall umgesetzt werden, sobald sie möglich sind. Sie sind aber nicht nur einzeln zu betrachten, sondern können und sollten auch als Elemente eines Weges zum Erreichen größerer Veränderungen gesehen werden. Auch sollte man sich unbedingt bereits für Veränderungen einsetzen, die im gegenwärtigen Zeitpunkt mangels politischem Willen noch nicht umsetzbar sind. Je mehr Menschen man davon überzeugt und je früher man damit beginnt, desto wahrscheinlicher und früher können solche Veränderungen in Zukunft tatsächlich umgesetzt werden. Und Zwischenschritte können die Voraussetzungen dafür schaffen.

In keinem Fall aber darf dies alles so verstanden werden, dass man sich nach abgeschlossenen Zwischenschritten zufriedengeben darf oder es bei diesen belassen könnte. Das Ziel, die Welt für alle Menschen zu einem besseren Ort zu machen, darf keinesfalls aus den Augen verloren werden oder aufgegeben werden. Es heißt einfach nur, dass Ziele oft nicht auf einmal, sondern Schritt für Schritt erreicht werden. So kann mit pragmatischen Mitteln vielleicht sogar doch eine Art Utopie erreicht werden. Pragmatismus und Utopismus sind keine Gegensätze.